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Im Blauen Kreuz erlebt - Artikel aus der Monatsschrift des Blauen Kreuzes in D. e.V., 11/2000
Auswege aus der Co-Abhängigkeit
Eine Angehörige macht Mut, den Teufelskreis des Leugnens zu durchbrechen
Pierrette S. ist 55 Jahre alt und seit 15 Jahren Mitglied im Blauen Kreuz. Sie leitet zusammen mit Silvia H. (Immenstadt) eine Gruppe für Angehörige in Isny/Allgäu. Im Folgenden schildert sie ihre Erfahrungen, die sie als Angehörige gemacht hat.
Ich bin die älteste Tochter eines alkoholkranken Stiefvaters und einer co-abhängigen Mutter, deren Vater ebenfalls alkoholkrank war. Als Kind litt ich (unbewusst) sehr unter den Umständen in meiner Ursprungs-Familie und heiratete selbst später zwei' alkoholkranke Männer.
Vor rund 15 Jahren, als ich zu der Al-Anon-Gruppe (Angehörigen-Gruppe der "Anonymen Alkoholiker") und parallel dazu zum Blauen Kreuz kam, begann ich meine Lebensgeschichte zu reflektieren. In dieser Zeit fand ich zum Glauben an Jesus Christus.
In Stuttgart absolvierte ich danach die Ausbildung für freiwillige Suchtkrankenhelfer. In diesen Seminaren wurde mir bewusst, dass ich auch meine Persönlichkeit weiter entwickeln muss. Bei allem Verständnis für meinen alkoholkranken Partner, von dem ich getrennt lebte, erkannte ich zunehmend, dass ich auch Hilfe brauchte. Mein damaliger Mann ging leider nur kurz zu den Anonymen Alkoholikern" ...
Aus dem Suchtkreislauf wollte ich aber heraus, um gesund zu werden. Ich erkannte, dass ich für meine emotionale, seelische und körperliche Gesundung selbst verantwortlich bin. In diesen Jahren erlebte ich auch innere Heilung - ein Prozess, der bis heute anhält. So hätte ich es mir nie träumen lassen, dass ich als geborene Französin und aufgrund meines früheren geringen Selbstvertrauens und Selbstwertes es wagen würde, in einer "fremden" Sprache einen Lebensbericht zu schreiben.
Dank der guten Literatur, die im Blaukreuz-Verlag angeboten wird, unter anderem das Buch von Margaret J. Rinck: "Können Christen zu sehr lieben?" und einer guten Therapie, wurde mir aber innerlich vieles klar und ich konnte ehrlich werden zu mir selbst. Heute bin ich mir der Liebe Gottes sicher und bewusst. Ich freue mich darüber, dass Jesus mich erlöst hat und ihm danke ich von ganzem Herzen, dass ich sein Kind bin.
Vergebung befreit zum Leben
In den vergangenen Jahren ist mir immer mehr bewusst geworden, wie sehr der Alkoholismus mich und meine Geschwister bzw. Kinder geprägt hat. Alle meine fünf Geschwister beispielsweise haben Partner geheiratet, die entweder tablettenabhängig sind oder aus beziehungsgestörten Familien kommen, in denen andere Süchte wie die Arbeitssucht vorhanden sind. So ist mein Bruder verheiratet mit einer beziehungsabhängigen bzw. -süchtigen Tochter eines Alkoholikers, der an seinem Suchtmittelmissbrauch verstarb. Von meinen fünf Kindern sind zwei selbst alkoholabhängig. Die anderen stecken noch tief in ihrer Co-Abhängigkeit. Einer meiner Söhne hat zudem eine Tochter von alkoholkranken Eltern geheiratet.
Angesichts dieser Erfahrungen freue ich mich darüber, dass das Blaue Kreuz die "Deutsche KinderSuchthilfe", eine Stiftung für Kinder mit alkoholkranken Eltern, gegründet hat. Ich bin überzeugt, dass alkoholkranke Eltern von ihrer Sucht frei werden können, wenn sie mit Gottes Hilfe bereit sind, an sich zu arbeiten. Sie benötigen neben Therapien unter anderem Gruppen, in denen sie zusammen oder getrennt über ihre Probleme sprechen können. Dabei ist wichtig, dass es solche Angebote wie Therapien und Gruppen auch für die Angehörigen gibt, denn diese sind genauso "geschädigt" wie Alkoholkranke.
Die Erkenntnis, dass ich meine Kinder mitgeschädigt habe, war für mich nicht einfach anzunehmen und zu verkraften. Ich weiß aber, dass Jesus mir alles vergeben hat und dass ich jeden Tag neu starten darf. Die Freude darüber, dass mein sündiges Verhalten in die Tiefe des Meeres versunken ist, gibt mir die Kraft zum Leben. Hoffnung erhalte ich durch die Gewissheit, dass meine Kinder auch seine Hilfe annehmen können, wenn sie wollen.
Traurig macht mich die Erfahrung, dass in den Suchtkrankenfamilien das Leugnen der eigenen Situation sehr tief in der Seele begraben ist. Dieses Leugnen hält die Angehörigen gefangen und zwingt sie zu krankhaftem Verhalten.
Gegenseitig Mut machen
Aber ich bin davon überzeugt, dass es Hoffnung für Angehörige gibt. Co-Abhängigkeit ist keine Störung (ich mag das Wort "Krankheit" nicht), die keine Aussicht auf Heilung hätte. Deshalb ist es wichtig, dass Angehörige ermutigt werden, ganz konkret über ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung zu sprechen, damit andere Mut erhalten und sich ihrer Lebenssituation stellen.
Durch Aufklärung über die Co-Abhängigkeit wird die Chance für Angehörige größer, dass sie aus dem Teufelskreis des Leugnens herausfinden. So können sie aufhören zu sagen, dass die Familiensituation bei ihnen "noch" nicht so schlimm sei, während sie und ihre Kinder weiter leiden.
Heute tut es mir gut zu merken, dass die Angehörigen im Blauen Kreuz ernst- und wahrgenommen werden. Wir Angehörige haben viel gelitten, leiden vielleicht noch, aber wir wollen aktiv an unserer Genesung teilnehmen. Wir wollen Mitgefühl, aber kein Mitleid. Es würde uns hemmen, gesund werden zu wollen!