Erfahrungsbericht
Co-Abhängigkeit ist ein umstrittener Begriff. Die Kritiker haben Bedenken, dass jede Hilfe als krankhaft abgestempelt werden könnte. Für mich war, oder ist die Co-Abhängigkeit, mein Verhalten gegenüber meinen Mitmenschen. Ich habe früh geheiratet und habe auch gleich das erste Kind bekommen. Das erste Haus wurde auch gleich angeschafft. Danach kam das zweite Kind, der Umbau am Haus, ein riesengroßer Garten und das dritte Kind. Für mich hieß das keine Discobesuche, nicht mehr fortgehen am Abend. Durch den Wohnortwechsel waren auch keine Freunde mehr da. Auto hatte ich keines, ich konnte mich so voll auf meine Familie konzentrieren. Das hat mir auch mein Elternhaus so beigebracht. Da hieß es:
- versorge deine Familie
- du bist verantwortlich, dass alles reibungslos funktioniert
- sei für deinen Mann da, der braucht dich
- behalte deine Ansichten für dich
- die Ehe ist was Heiliges
- schütze deine Kinder
- als Mutter musst du verzichten
- keiner braucht zu wissen wie es uns wirklich geht.
All das konnte ich gut. Ich fand auch die Rolle der selbstlosen Frau war eben ein wirklich edler Wesenszug. Das war etwas, was ich mir als Kind immer gewünscht habe, Menschen die für mich Zeit haben. Ich wollte Zeit für andere haben, und habe mich dabei vergessen.
Ich hatte für die Probleme der anderen Menschen Zeit, meine Probleme habe ich nicht gespürt, so beschäftigt war ich. Dass etwas nicht stimmte, das konnte ich wahrnehmen, aber ich habe das auf das Trinkverhalten meines Mannes zurückgeführt. Ich will hier nicht behaupten, dass mein Ex-Mann Alkoholiker ist, das weiß ich nicht, und ist inzwischen für mich nicht mehr wichtig. Er hat jedenfalls exzessiv getrunken und es gab all die Begleiterscheinungen, die solche Eskapaden bringen können. Im Trunkenheitszustand Aggressionen gegen mich zumeist verbal. Und ich habe mich sofort verantwortlich gefühlt, zu verhindern, dass dieser Mann nicht für sich oder andere zur Gefahr wird. Zu versuchen einen Betrunkenen am Autofahren zu hindern, ist eine nervenaufreibende Sache und meist ohne Erfolg. Ich habe mich immer noch verantwortlich gefühlt, wenn die Fahrt nicht verhindert werden konnte und bin fast durchgedreht in meiner Angst. Das waren Zustände, die fast an Wahnsinn denken lassen. Für mich ist das so gewesen. Da war auch noch der Glaube – meine Liebe zu diesem Mann fordert eben auch Opfer von mir – das war so eine Aussage von meiner Oma (eine echt liebe Frau, die zwei Kriege erlebt hat und deren Leben wirklich auch aus Opfern bestand) und ich habe meine Auslegung in dieser verfahrenen Situation eben dahin gesteuert, dass es auch mal anders als eitler Sonnenschein sein kann. Und wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass gerade solche Denkweisen mir erst ermöglicht haben, so lange in einer solch einseitigen Beziehung zu bleiben. Hier kommt ein Wesenszug zum Tragen, den ich früher als positives Denken betitelt habe. Tatsächlich ist das Schönfärberei meiner Lebensumstände, denen ich nicht gewachsen war. Ich hatte noch zu wenig eigene Werte, die ich eben nicht benennen konnte. Da war dann plötzlich Angst vor dem Mann, „den ich liebte“. Irgendwie ist es soweit gekommen, dass er mir meinen Selbstwert nehmen konnte. Ich habe mich irgendwann sogar für seine Stimmung verantwortlich gefühlt. Wenn er mit schlechter Laune von der Arbeit kam, versuchte ich alles zu tun, um ihm die Zeit zuhause so angenehm wie möglich zu machen.
So glaubte ich eine Zeit lang die Sache steuern zu können. Ich wollte, dass das Trinken aufhört und habe versucht, das Versprechen zu erhalten, dass er weniger trinkt. Das konnte er aber nicht einhalten. Da kamen dann Ausreden wie: "Ich kann doch den Kollegen nicht vor den Kopf stoßen, der hat doch Geburtstag, wie stehe ich vor den anderen da, wenn ich plötzlich nichts mehr trinke" usw. ... und ich hatte kein Argument, das mir einfiel, um meinen Wunsch zu bekräftigen. Da kamen dann auch immer wieder Versprechungen,die nicht gehalten wurden. Ich war tief verletzt und wollte das zugleich nicht wahrhaben. Hätte ich diese Erkenntnis zugelassen, wäre die Beziehung da schon gestorben und davor hatte ich Angst. Ich hatte Angst, es nicht alleine zu schaffen. Mein Mann sagte mir ja auch immer wieder, ohne ihn sei ich verloren oder: "Du bekommst sowieso nichts, wenn du gehst" und Ähnliches.
Ich war immer wieder voller Hoffnung bei einem Versprechen und war dann sehr verletzt, wenn das Versprechen nicht gehalten wurde. Ich suchte verzweifelt nach der früheren Verbundenheit zwischen uns. Aber da war nichts. Hier möchte ich anfügen, dass ich mich immer wieder mit den Ausreden und Versprechen begnügt habe. Ich habe auch versucht nach Jahren mit dem Menschen zu reden und sein Gefühl wiederzufinden, das ich mal gespürt hatte. Dem hat er sich immer wieder entzogen und im krassesten Fall hatte er zu mir gesagt, ich solle ihn gefälligst in Ruhe lassen mit dem Gefühlsquatsch. Dann war ich wütend, wollte aber nicht wütend sein, denn das ziemt sich nicht für einen erwachsenen Menschen und ich wollte Reife und meine Duldsamkeit (die ich für eine tolle Sache hielt) unter Beweis stellen.
Aber Wut und Trauer lassen sich nicht wegleugnen die sind einfach da. Mich hat diese Zeit viel Kraft gekostet zwischen Hoffen und Enttäuschung. Zwischen Wut und Trauer und auch der Ignoranz des Mannes an meiner Seite ist mein Gefühl für den Mann irgendwann gestorben. Als er versprochen hatte, mit mir und den Kindern in den Urlaub zu fahren und uns dann nach Monaten der Planung alleine losschickte, habe ich mir geschworen: "Ich brauche dich für gar nichts mehr. Ich brauche keinen Vater für meine Kinder – du bist sowieso nie da und wenn dann betrunken oder vor der Glotze, keinen Handwerker das kann ich auch. Für die Kohle, da kann ich arbeiten gehen auch wenn du dir einbildest ich kann nichts, und für das Bett, das dir so wichtig ist gibt’s tausend andere."
Mit dieser extremen Sichtweise habe ich erkannt, der Mann ist es nicht mehr, was mich hält. Und erst viel später habe ich herausgefunden, was mich so gebremst hat in einer gesunden Handlungsweise. So habe ich noch fast drei Jahre gelebt in dieser ungesunden Ehe. Ich habe meine ganze Energie gebraucht. Zuletzt habe ich nur noch funktioniert und ich war nicht imstande einen Weg zu finden, der eine Lösung brächte, so vieles hatte ich schon probiert und in dieser Zeit wollte ich einfach nicht mehr verletzt werden. Ich bin aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen und habe gehofft, ein nebeneinander leben wäre möglich. Da bekam ich dann zu hören: die spinnt mal wieder – zu den Kindern wurde gesagt: "Die ist einfach verrückt, die wird schon wieder normal". Das waren die weniger harten Kränkungen und das hat der Mensch nüchtern gesagt - hier hatte ich keine Entschuldigung für ihn. Das war der Mann, den ich mal geliebt habe! Da war ich so traurig, dass ich sterben wollte. Ich hatte doch nur ihn! Was sollte ich alleine anfangen? Was würde geschehen, wenn ich gehe? Würde er nun seinen Aggressionen nachgeben und mir was antun? Bin ich sicher, wenn ich gehe? Was wird mit den Kindern? Mit dem Mann konnte ich nicht mehr zusammenleben, jeder Tag bedeutete verletzt zu werden. Ich war aber schon so verletzt, ich glaube in der Zeit habe ich einfach nur überlebt. Ich hatte mein Selbstvertrauen verloren, meinen Lebensmut. Wenn nicht meine Kinder gewesen wären, ich glaube, ich hätte den Lebenskampf einfach aufgegeben. Durch meine Tochter fand ich die Kraft zu gehen. Da gab es einen unschönen Vorfall zwischen ihr und dem Vater und da habe ich es geschafft. Für mich war das eine Überlebensfrage und durch die Not meines Kindes fand ich genügend Kraft, um es einfach zu versuchen. Ausserdem habe ich den Spieß umgedreht und ihn erpresst. Ich habe ihm angekündigt, wenn er es wagen sollte sich an mir oder den Kindern zu vergreifen, hätte ich vorgesorgt und er müsste sich vor Gericht verantworten.
Meine Angst war nicht weniger, aber da habe ich gewusst, mein Kind kann sich nicht schützen, das muss ich tun. Da hat das dann funktioniert. Und das war eine Verletzung, die nicht in erster Linie mich betraf, sondern jemanden, den ich schützen muss, den wir als Eltern schützen sollten. Ich habe da erst gemerkt, was es bedeutet, wenn Vertrauen so missbraucht wird. Ich glaube, dass ich meine Kränkungen nie so gespürt habe, wie die Kränkung an meinem Kind. Erst da konnte ich mich spüren und habe immer wieder gedacht, das stehe ich nicht durch. Ich mag nicht aushalten müssen, was schon längst vorbei ist. Warum kann das nicht einfach ruhen?
Ich habe noch sehr lange gebraucht, bis ich zu mir fand. Da war ich unendlich traurig und so verletzt, dass ich ganz oft geheult habe, weil ich es sonst nicht ausgehalten hätte. Die Anspannung in mir hat sich mit meinen Tränen gelöst und ich habe gelernt zu reden. Alles was ich an Kränkung und Verletzung erfahren habe, musste ich noch mal aushalten. Ich weiß auch, dass ich noch nicht alles durch habe. Aber ich weiß, ich schaffe das. Weil ich suche nach meinen Defiziten, nach dem, was ich als Kind vermisst habe und es aushalte, wenn die Gefühle, die ich lange geleugnet habe und die dann hochkommen aushalte.
Der Kreislauf hat irgendwann angefangen und ich kann nicht mehr sagen wann oder was entscheidend war. Heute glaube ich, dass meine Defizite, die ich schon als Kind mitgebracht habe und seine Defizite, die er schon als Kind hatte, sich in so ungünstiger Form entwickelten, weil wir beide versäumt haben zu reden. Der Austausch mit anderen ist für mich heute das Wichtigste, um meinen Weg zu finden. Es ist für mich nicht angenehm, wenn mir wieder mal einer die Wahrheit sagt. Und doch ist es genau das, woran ich wachse. Ich will mir ein paar Eigenarten erhalten, die mir auch immer wieder im Wege stehen, aber jeder Wesenszug hat auch seine positiven Seiten.
Um noch mal mein Co-Verhalten zu betrachten, möchte ich kurz darauf eingehen, wie sich die Co-Abhängigkeit für unsere Arbeit mit den Familien aufarbeiten lässt.
1. Definition Co-Abhängigkeit
Hilfe ist okay! Helfe ich die Krankheit erkennen oder leugnen
Für mich ist genau da die Grenze zwischen Hilfe und Co-Verhalten
Die Kritik, dass somit jede Hilfe als krankhaft ausgelegt werden könnte, greift hier nicht.
Die Frage nach den Auswirkungen meiner Hilfe klärt die Art meiner Hilfe.
Noch ein Satz, der zum Nachdenken anregt: Jede Art von Hilfe muss nicht wirklich hilfreich sein. Hilfe kann auch schaden.
2. Was habe ich getan in meiner Beziehung? Ich habe mit der Verantwortung auch die Kontrolle übernommen. Ich wollte das Verhalten des Mannes ändern und habe Druck ausgeübt – Folge: Der Partner entzieht sich dem Einfluss und übt seinerseits Druck aus.
3. Eine Zeit lang kann ich mich sonnen in dem Gefühl, für den anderen da zu sein, zu helfen. Eine edle Geste.
4. Bei mir kam es zu Kränkungen. Versprechen die nicht gehalten wurden. Beleidigungen usw.
5. Ich bekomme Wut und reagiere mit Vorwürfen. Ich fühle mich hier als Opfer.
6. Die Situation wird nicht geklärt – Aggression des Partners und Aggression des Helfers beides bringt uns nicht weiter.
Hier ist mein Leidensdruck so groß, dass ich Veränderung fordere, aber mein Partner konnte nicht mehr reagieren. Da habe ich die Ehe aufgegeben.
Gespräch mit Fachleuten