Corona-November mit Frederick
Viele von Ihnen kennen vielleicht das wunderbare Bilderbuch von Frederick, der Maus (von Leo Lionni).
Als der Winter naht und alle Feldmäuse Tag und Nacht arbeiten, um Körner, Nüsse, Weizen und Stroh zu sammeln, tanzt einer aus der Reihe. Frederick sitzt auf einem Stein und scheint nichts zu tun. Die Mäuse fragen ihn, warum er nicht hilft und Frederick antwortet, dass er sehr wohl sammle.
Er sammle Sonnenstrahlen, Farben und Wörter.
Dann ist der Winter da und nach und nach gehen die Vorräte zur Neige. Die Mäuse frieren und haben Hunger. Da kommt Fredericks große Stunde: Er verknüpft seine gesammelten Worte zu einem wunderschönen Gedicht, wärmt mit der Erinnerung an die Sonnenstrahlen die Herzen der Mäuse und lässt mit seinen bunten Farben den grauen Winter festlich aussehen.
Seit ich vor einigen Tagen mal wieder auf diese Geschichte gestoßen bin, lässt sie mich nicht los. Auch für uns ist der Sommer vorbei und Herbst und Winter bergen Gefahren und Risiken, die wir nie zuvor kannten. Wir sehen uns einer Herausforderung gegenüber, vor der wir nicht fliehen und gegen die wir nicht ankämpfen können. Das macht uns ratlos, hilflos, unsicher und ängstlich. Wir können nicht planen, reduzieren mal wieder unsere Kontakte, schränken unsere Freizeitaktivitäten ein und haben keine Ahnung, was noch auf uns zukommt.
Stress, der nicht positiv umgewandelt werden kann, schwächt unser Immunsystem, das wir gerade doch so dringend brauchen. Vielleicht sammeln gerade deswegen wieder einige Klopapier, Nudeln und Hefe – nur, um überhaupt etwas zu tun.
Und dann lese ich diese kleine Geschichte von der Maus, die Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt. Und es ist, als fällt alleine durch das Lesen schon ein Hoffnungsstrahl in mein Herz.
Im Stern Nr. 43 lese ich von Tobias Schmitz: „Wer sich innerlich stärkt, kann in schlechten Zeiten davon zehren … Es gibt sie bereits, die Werkzeuge, die unserer Psyche nachweislich helfen, besser mit Stress umzugehen … Eine dieser Strategien ist das Training der eigenen Resilienz (Widerstandsfähigkeit).“
Das ist die schöne Botschaft von Fredericks Geschichte: Wir können Widerstandsfähigkeit trainieren – oder sammeln. Da sind sich auch Psychologen und Therapeuten einig.
Und – wen wundert’s – das ist auch die gute Botschaft der Bibel:
„Denn der Geist, den Gott uns gegeben hat, macht uns nicht zaghaft, sondern gibt uns Kraft, Liebe und Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7) – um nur mal einen von vielen Bibelversen zu dem Thema zu zitieren. Wir können etwas für unsere eigene Stärke tun.
Wie letztlich die Corona-Pandemie bezwungen werden kann, liegt nicht in unserer Hand, das stimmt. Aber wie wir in unserem eigenen kleinen Leben damit umgehen sehr wohl! Ich kann durch die nächsten Wochen gehen mit der Einstellung: Augen zu und durch. Genug Klopapier, genug Netflix-Serien und Computerspiele – irgendwie kriegen wir die Zeit schon rum.
ODER ich entscheide mich für eine völlig andere Vorgehensweise: Ich nehme es in die Hand, wie es wird. Ich GESTALTE diese Zeit. Ich sehe sie als Möglichkeit an, mich, die anderen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, Widerstandskräfte zu trainieren: In kleinen Dingen Veränderung wagen, mir auf die Spur kommen, Achtsamkeit einüben. Meine Ängste und Unsicherheiten an die Hand nehmen und ausprobieren, wie ich mit ungewohnten Situationen umgehe.
Farben sammeln – wie kann das konkret aussehen?
Eine kleine persönliche, nicht vollständige Liste der Möglichkeiten:
1. „Hebe deine Augen auf und du wirst Sterne sehen.“ (Nicolas de Caritat)
Ich beginne den Tag mit einem Morgenspaziergang, egal, wie das Wetter ist. Hier lohnt sich die Investition von wasserdichter Kleidung. Ich bleibe immer wieder stehen und nehme wahr, was ich sehe, was ich rieche und was ich berühren kann. Mit meinen Augen, meinen Ohren und meiner Nase sammle ich die kleinen Wunder am Weg.
Der Duft von Nebel, das Gefühl von kleinen Tropfen auf der Haut, ein kleines, buntes, einzigartiges Herbstblatt, Autolärm und Kinderlachen, das Rauschen des Windes, das Krächzen der Elstern, Gezänk aus dem Küchenfenster, die plötzliche Helligkeit, wenn die Sonne durchbricht, der Fliegenpils am Fuß der Eiche, der Blick über das Tal oder in Baumkronen hinein …
Alles nehme ich ganz intensiv wahr und sammle es für mich.
2. Morgengymnastik, ja tatsächlich! Dehnübungen, Lockerungsübungen bei Guter-Laune-Musik. Hunderte YouTube-Videos zeigen mir, was ich für meine verspannten Problemzonen tun kann. Vorher habe ich absolut keine Lust, aber nachher bin ich stolz auf mich. Ich bin ein klitzekleines bisschen gelenkiger und das motiviert mich.
Ich sammle das Gefühl ein, dass ich etwas bewirken kann.
3. Ich überlege, mit welchem Menschen ich mich total gerne unterhalte. Ich hoffe nicht darauf, dass er/sie sich meldet, sondern werde aktiv und mache einen Telefontermin aus oder verabrede mich zu einem Waldspaziergang. Vielleicht verabrede ich mich mit ihr/ihm sogar 1x die Woche.
Vor unserem Treffen sammle ich die Vorfreude ein und nachher das Gefühl von Nähe.
4. Ich schreibe den Satz aus Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!“ auf und klebe ihn an den Spiegel und an den Kühlschrank. Ich denke immer wieder darüber nach und tausche mich mit jemandem darüber aus, was dieser Satz in der jetzigen Situation bedeuten könnte.
Ich sammle Mut-machende Worte.
5. Ich krame alte CDs aus den hinteren Regalen und höre mir die Lieblingssongs aus vergangenen Jahrzehnten an.
Ich sammle Musik, die mein Herz fröhlich macht und schöne Erinnerungen hervorruft.
6. Ich lasse mir ein Bad einlaufen und mache eine Zeremonie draus mit Kerzen, viel Badeschaum, Entspannungsmusik und/oder einem Buch. Das Handy bleibt draußen!
Ich sammle Wärme, Wärme, Wärme. Denselben Effekt erziele ich übrigens, wenn ich mich bei Freunden einlade (ein zweiter Haushalt geht ja noch so eben …), die einen Kamin haben. J
7. Ich führe ein „Corona-Tagebuch“, in dem ich jeden Abend notiere, was mir heute gutgetan hat, worüber ich mich gefreut habe, was mir gelungen ist.
Am Tag schon sammle ich die Momente dazu. Ich übe mich im Hinsehen!
Abends sammle ich beim Schreiben Dankbarkeit und Zufriedenheit.
8. Ich reserviere jeden Tag eine Zeit, in der ich mich mit Gott verabrede. Hier erlaube ich mir auszusprechen, was mich belastet, traurig macht, ängstigt und aufregt. Ich übe mich im Loslassen, indem ich diese Dinge bewusst in seine Hände lege.
Ich bitte ihn um Hilfe und sammle Momente des Vertrauens.
9. Ich gehe durch meine Wohnung und überlege, wie ich sie schöner und gemütlicher machen kann. Ich schmeiße weg, was ich schon seit zwei Jahren nicht mehr gebraucht habe.
Ich kaufe Farbe und streiche eine Wand in meinem Lieblingston. Ich tausche Bilder und Fotos an den Wänden aus und stelle die Möbel ein bisschen um.
Ich sammle neue Eindrücke.
10. „Was wir im Auge haben, prägt uns. Dahin werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“ (Heinrich Spaemann)
Dieser etwas altertümliche Satz lässt mich überlegen, wem oder was ich mich aussetzen will. Was schaue ich mir im TV oder auf dem PC an? Was lese ich? Mit wem tausche ich mich auf Facebook und Co. aus? Womit beschäftige ich mich gerade? Tut mir das gut? Macht mich das froh? Hilft es mir weiter? Wenn nicht, wende ich mich ermutigenden und konstruktiven Menschen und Quellen zu.
Ich sammle Optimismus und Zuversicht.
11. Ich veranstalte einen italienischen, spanischen oder chinesischen Abend. Nur für meinen Liebsten und mich. Oder für meine Freundin und mich. Oder für einen besonderen Menschen. Ich bestelle beim Lieferdienst, decke festlich den Tisch, versuche mit Farben und eigenen Kreationen ein wenig nationales Flair herzustellen und lege entsprechende Musik auf oder zapfe Spotify an.
Ich sammle Spaß und Lebensfreude.
12. Ich gebe meinen Widerstand gegenüber Videomeetings auf und verabrede mich am Wochenende mit unseren Urlaubsfreunden, mit Familienangehörigen, mit Leuten aus der Begegnungsgruppe (…) zu einem Online-Treffen. Wir machen es uns vor dem Laptop gemütlich mit warmem Licht, Tee und (Weihnachts-)Gebäck.
Ich sammle Nähe und Gemeinschaft auf Abstand.
13. Ich lerne einen meiner englischen Lieblingssongs auswendig. Schaue mir den Text und die Übersetzung an, suche die Gitarrengriffe im Internet raus und singe ihn jeden Tag entweder mit eigener Begleitung oder mit Musik aus dem Netz.
Ich schule meine Stimmbänder, damit sie nicht eingerostet sind, wenn wir wieder gemeinsam singen dürfen.
Und ich sammle Kraft durch die Stärke meiner Stimme
Ich habe den alten Song von Earth, Wind and Fire „We can touch the world“ wiedergefunden, den ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört habe.
„I tell you, we can touch the world, when we meet them at their need.
We can touch them where they are. Help them to believe.“
Wie passend in dieser Zeit, wo Berührung nur noch mit ein oder zwei „Knuddelkontakten“ stattfinden darf.
„Ich sage dir: wir können die Welt berühren, wenn wir sie da treffen, wo sie ihre Bedürfnisse haben. Wir können die Menschen da berühren, wo sie sind und ihnen helfen, zu glauben.“
Am Ende des Liedes heißt es:
„Wir müssen sie wissen lassen, dass Gott Hoffnung gibt und Jesus der Weg ist!“
Berührung geht also auch anders und ich denke wieder an den Bibelvers: „Denn der Geist, den Gott uns gegeben hat, macht uns nicht zaghaft, sondern gibt uns Kraft, Liebe und Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7)
Kommen wir noch mal zu Frederick: Irgendwann in dem langen Winter war die Zeit gekommen, in der die Mäusefamilie spürte, wie sehr es sie nach Farben, Wörtern und Sonnenstrahlen hungerte. Jetzt war Frederick war da, um sie ihnen zu schenken.
Ich sammle nicht für mich alleine! Und meine gesammelten Schätze verdoppeln sich, wenn ich sie weitergebe.
Wem kann ich ein paar bunte Farben vorbeibringen? Und wie sähe das aus?
Wer braucht gerade jetzt wärmende Sonnenstrahlen und was kann ich dazu beitragen?
Wer hungert nach ermutigenden, wohltuenden Worten?
Hier ist unserer Kreativität keine Grenze gesetzt:
- einer Nachbarin einen Gruß vor die Haustür legen
- einen „Wie-Geht-Es-Dir?“-Anruf starten
- überlegen, ob ich für jemanden einkaufen gehen kann (und es auch tun)
- eine gute alte Postkarte schreiben
- ein Geschenk basteln und einfach so schenken
- meine Zeit verschenken und andere wissen lassen, dass ich gut zuhören kann
- einen Videochat ins Leben rufen und gemeinsam singen
- mit jemandem online „Montagsmaler“ oder „Stadt, Land, Fluss“ spielen …
Frederick ist eine Geschichte über das Leben, das Alltägliche und über das Glück. Und darüber, etwas anders zu machen als die anderen.
Genau dazu kann ich mich entscheiden in diesem ver-rückten Corona-November. Ich bin nicht hilflos den Umständen ausgeliefert. Ich habe die Freiheit, mein Leben und meinen Alltag so zu gestalten, wie es mir und anderen gut tut. Ich sammle Farben, Sonnenstrahlen und Wörter für mich und verschenke sie dann an andere.
Andrea Schmidt